Eigentlich dürfte es nicht funktionieren: Jazz meets Techno meets Bigband. Nur: Alle, die die Jazzrausch Bigband schon einmal gehört oder gesehen haben, juckt das nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Seit der Gründung im Jahr 2014 ist das komplett unabhängige Projekt kontinuierlich gewachsen. Von der gefeierten Hausband im legendären, heute kurz vor der Zwangsschließung stehenden Münchner Techno-Club „Harry Klein“, in dem über den Zeitraum von drei Monaten auch die Aufnahmen des neuen Albums „Emergenz“ stattfanden, bis in die großen Klassik-Tempel wie die Elbphilharmonie, Isarphilharmonie oder Berliner Philharmonie. Und inzwischen auch weit über die Landesgrenzen hinaus. Jazzrausch Bigband, das heißt: Gigantischer Nerd-Exzess, Wucht und Raffinesse, Spaß und Tiefgang, jung und alt, E und U. Geht nicht, gibt’s nicht.
Dass geht, was eigentlich nicht gehen kann, liegt an drei Konstanten: Zum einen Roman Sladek - besessener Bandleader, Organisator, Möglich-Macher und mächtiger Posaunist mit klassischer Ausbildung und Heavy Metal-Background. Hinzu kommt Komponist und Elektroniker Leonhard Kuhn, mit dessen Hilfe die Jazzrausch Bigband agiert wie ein klassisches Orchester. Je „Spielzeit“ widmet sie sich mindestens einem, oft auch mehreren neuen Themen: Klassischen Komponisten wie Beethoven, Bruckner oder Schostakowitsch genauso wie Einflüssen aus Philosophie, Literatur oder Naturwissenschaft, sogar swingende Weihnachtsprogramme sind Teil des Repertoires, dann ausnahmsweise auch mal ganz ohne Techno.
Schließlich wäre alles nichts ohne die drei Dutzend Musikerinnen und Musiker, die zur Besetzung der Jazzrausch Bigband gehören. Allesamt Charaktere für sich, mit klarer Handschrift, Bühnenpersönlichkeit und sehr diversem musikalischen Background. Womit wir beim Thema des Albums „Emergenz“ angelangt wären. Der Begriff stammt aus der Philosophie und beschreibt das Herausbilden neuer Eigenschaften eines Systems durch das Zusammenspiel seiner einzelnen Elemente.
Eine Metapher für den lebenden, sich stetig verändernden Organismus Jazzrausch Bigband. Vergleicht man „Emergenz“ mit früheren Alben, so fällt vor allem auf, dass die Ausdruckspalette der Band noch differenzierter und raffinierter geworden ist. Klar, auf den Energie-Höhepunkten der Platte steppt auch weiterhin der Techno-Jazz-Bär. Wäre ja auch schlimm, wenn nicht. Aber zwischendrin bricht die four- on-the-floor Bassdrum immer öfter auf, manche Abschnitte werden fast nur von komplex ineinander verzahnten Bläserstimmen oder lässigen Vokal-Passagen getragen.
Man hört Einflüsse aus Minimal Music und federndem Drum’n’Bass, Fragmente aus Gedichten von Gertrude Stein („Go! Go! Go!“, „Present Tense“) oder der Musik von Wayne Shorter („Orbits“). Auf „As Darkness Fell“ flüstert die aus Armenien stammende Trompeterin Angela Avetisyan von einer Zeit, in der es still wurde und keine Musik mehr zu hören war. Die Ballade „Five Dice“ erzählt die wahre Geschichte einer Frau, die nach der Trennung von ihrem Partner fünf Würfel als Andenken an ihn behält. Das nervös-aufgekratzte „Ticking Time Bomb“ beschreibt das Gefühl, von den eigenen Gefühlen und Gedanken überwältigt zu werden und von der schieren Fülle der Eindrücke aus sich selbst heraus nahezu zu explodieren.
Es hilft, all diese und viele weitere Einflüsse aus der Lebens- und Gedankenwelt der Mitwirkenden zu kennen, wenn man der Faszination und dem Erfolg des Phänomens Jazzrausch Bigband auf den Grund gehen will. Um sich von ihrer Musik berühren und begeistern zu lassen, braucht es hingegen keine Erklärungen. Alle so unterschiedlichen Zutaten vereinen sich organisch zu einem ganz eigenen, neuen Ding. Und es entsteht Musik, die unmittelbar in Herz und Kopf der Hörer*innen vordringt.